O. Kühschelm u.a. (Hrsg.): Niederösterreich im 19. Jahrhundert

Kühschelm, Oliver; Loinig, Elisabeth; Eminger, Stefan; Rosner, Willibald (Hrsg.): Niederösterreich im 19. Jahrhundert. Bd. 1: Herrschaft und Wirtschaft. Eine Regionalgeschichte sozialer Macht. St. Pölten 2021 : Niederösterreichisches Institut für Landeskunde, ISBN 978-3-903127-27-2 850 S. € 39,90

Kühschelm, Oliver; Loinig, Elisabeth; Eminger, Stefan; Rosner, Willibald (Hrsg.): Niederösterreich im 19. Jahrhundert. Bd. 2: Gesellschaft und Gemeinschaft. Eine Regionalgeschichte der Moderne. St. Pölten 2021 : Niederösterreichisches Institut für Landeskunde, ISBN 978-3-903127-28-9 869 S. € 39,90

Reviewed for H-Soz-Kult by
Therese Garstenauer, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien

“It is not easy to write about Lower Austria. There is no shape to it. Here and there a common factor can be found, in the arts, in history. But what has the Waldviertel to do with the draughty plain between Vienna and Neunkirchen? And what has the gentle world of Baden and the Helenental to do with the Marchfeld?” Das monierte die Publizistin Stella Musulin, die selbst einige Jahrzehnte in diesem Bundesland gelebt hat, in einem Buch über Österreich und seine Bewohner:innen1, und es ist nicht verwunderlich, dass eine Geschichte Niederösterreichs, die seiner nicht nur geografischen Vielfalt gerecht werden will, entsprechend umfangreich ausfallen muss.

Eine Monografie oder ein Sammelband zur Geschichte Niederösterreichs im 19. Jahrhundert stellte bisher ein Desiderat dar, sieht man von Überblicksdarstellungen ab, die unter anderem auch diese Periode abhandeln.2 Einem dreibändigen Sammelwerk zur Geschichte Niederösterreichs im 20. Jahrhundert, erschienen im Jahr 20083, folgte dreizehn Jahre später die hier besprochene fundierte Auseinandersetzung mit dem langen 19. Jahrhundert in dieser oft als „Kernland der Habsburgermonarchie“ bezeichneten Region. Schon durch die Reichshaupt- und Residenzstadt in ihrem Zentrum erwies sie sich unter den Kronländern als „gleicher als andere“, wie in einem der Beiträge festgestellt wird (Bd. 1, S. 98). Die vorliegende Geschichte Niederösterreichs ist ein relevanter Beitrag zur Geschichte von Staatlichkeit im Habsburgerreich in all ihrer Vielschichtigkeit. Es geht um die Entwicklung dessen, was Pieter Judson mit „a new kind of state for a new kind of society“4 umschrieben hat.

Die Geschichte Niederösterreichs wird in diesem Publikationsprojekt in zwei Bänden ausgerollt: der erste fokussiert auf „Herrschaft und Wirtschaft“ während der zweite „Gesellschaft und Gemeinschaft“ untersucht. Die sechs bzw. fünf Unterabschnitte der Bände werden jeweils mit kurzen Einführungen durch die Herausgeber:innen anmoderiert. Als konzeptuelles Leitmotiv, das viele der über 50 Autor:innen (darunter auch die Herausgeber:innen) in ihren Beiträgen auch aufgegriffen haben, dient Michael Manns „Geschichte der Macht“.5 Der erste Band erhält seine Struktur konkret von diesen historisch-soziologischen Auseinandersetzungen mit Ausformungen sozialer Macht. Politik, Militär, Ideologie und Ökonomie sind bei Mann zentrale Quellen der Macht. Diese Kategorien werden etwas adaptiert und durch eine fünfte, die ebenfalls aus diesem Instrumentarium stammende infrastrukturelle Macht („Netze sozialer Macht, die es ermöglichen, die Menschen und Ressourcen eines Gebiets in einen modernen Staat zu integrieren“, Bd. 1, S. 745), ergänzt.

Ein erster Abschnitt ist mit „Staatsbildung und Verwaltungsmacht“ betitelt. Vorab diskutiert Jana Osterkamp die Sonderstellung Niederösterreichs unter den Kronländern. Während die Beiträge zum statistischen Blick auf den Staat und zur Grundherrschaft auf die Zeit bis zum Vormärz fokussieren, behandeln die weiteren Artikel vorwiegend die zunehmende Durchstaatlichung auf der Ebene der Gemeinde-, Bezirks- und Landesverwaltung nach 1848. Ein Beitrag von Peter Urbanitsch zu Verfassung und Verwaltung überspannt dagegen die ganze Periode des langen 19. Jahrhunderts. Die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts neu eingerichteten Behörden stellen eine Schnittstelle zwischen Bevölkerung und Staat dar, der durch diese Neuerungen greifbarer und zugänglicher wurde.6

Der „bewaffnete[n] Macht“ ist ein eigener Abschnitt gewidmet, in dem regionalhistorisch das Verhältnis zwischen Militär und Gesellschaft in Kriegs- und Friedenszeiten nachgezeichnet wird. Das bezieht sich auf das eigene Militär, aber auch auf oft gewaltförmige Kontakte zwischen der ansässigen Bevölkerung und Soldaten aus ausländischen Heeren, wie Willibald Rosner in zwei Beiträgen ausführt. Ein Beitrag von Thomas Stockinger über die Revolution von 1848 korrigiert die Annahme, dass diese außerhalb Wiens und größerer Städte keine Wirkung gezeigt hätte: auch auf dem flachen Land gab es Unruhen, formierten sich Einheiten der Nationalgarde und regten sich Gruppen des Landsturms.

Unter der Überschrift „Politische und religiöse Macht“ sind Beiträge zu ideologischen Gruppierungen unterschiedlicher Couleur versammelt: Deutschnationale, christlichsoziale und sozialdemokratische Kräfte suchten im ländlichen Bereich Einfluss bei der Bevölkerung zu gewinnen. Darüber hinaus werden hier katholische und protestantische Lebenswelten beschrieben, ebenso wie jene in jüdischen Gemeinden. Jüd:innen war es erst mit dem Toleranzpatent von 1782 erlaubt worden, sich unter bestimmten Bedingungen in Niederösterreich anzusiedeln. Im späteren 19. Jahrhundert kam zum religiösen Antijudaismus ein rassistischer Antisemitismus, ein Begriff der erstmals um 1880 auftauchte, wie Christoph Lind ausführt.

Das Kapitel zur „Wirtschaftsmacht“ befasst sich abgesehen von der Industrialisierung mit Fragen der Land- und Forstwirtschaft, aber auch mit einem Überblick über Lebensstandard und Einkommensverteilung. Niederösterreich war das Kronland mit der höchsten Produktivität, dem frühesten sektoralen Wandel weg von der Landwirtschaft und den höchsten Vermögen. Michael Pammer räumt dabei ein, dass einigermaßen verlässliche Daten erst ab dem späten 19. Jahrhundert verfügbar sind. Die Beiträge von Andrea Komlosy und Klemens Kaps unterstreichen die Einbindung Niederösterreichs in den globalen Handel. Vor allem der „Mittelmeer- und Atlantikraum erwies sich als eminent wichtiger Wirtschaftsraum sowie dynamische Kontaktzone für die Warenproduktion in Niederösterreich“ (Bd. 1, S. 741).

Unter dem Titel „Infrastrukturmacht“ werden Netze von Verkehr, Informationsaustausch und Fürsorge behandelt. Dementsprechend geht es um den Ausbau von Verkehrs- und Kommunikationswegen, Schulbildung, Armenfürsorge und die in dieser Periode neu entstehenden Unfall- und Krankenversicherungsanstalten, die unter anderem auch die Identifikation der Versicherten mit dem Staat fördern sollten.

Die Struktur des zweiten Bandes ist weniger direkt an einem Theoriegebäude orientiert. Das ist aber nicht unbedingt eine Schwäche dieser Publikation, vielmehr werden damit auch Perspektiven ins Zentrum gerückt, die sonst womöglich zu wenig Beachtung fänden. In der programmatischen, beiden Bänden vorangestellten Einleitung räumt Oliver Kühschelm ein, dass in Manns theoretischem Rahmen etwaige kulturelle Quellen der Macht oder auch Geschlechteraspekte zu kurz kommen (Bd. 1, S. 37; diese berechtigte Kritik teilen auch einzelne Autor:innen). Frauen- und Geschlechtergeschichte ist tatsächlich im zweiten Band prominenter vertreten, wiewohl auch einzelne Beiträge zum ersten Band darauf eingehen (zum Beispiel jene im Unterkapitel zu politischer und religiöser Macht).

Im Abschnitt „Bevölkerung und Sozialstruktur“ wird speziell in den Beiträgen zur demografischen Entwicklung und zur Migration der wachsende Zugriff des Staats auf die Bevölkerung thematisiert, sei es in Gestalt gesundheitspolitischer Maßnahmen, sei es in Form statistischer Erfassung der ansässigen und mobilen Bevölkerung. Die Beiträge über soziale Schichten – Arbeiter:innen, Bäuer:innen, Bürger:innen und Adelige – empfehlen sich als vertiefende Lektüre in Kombination mit dem Abschnitt zu politischer und religiöser Macht im ersten Band. Sabine Schmitners Beitrag über Mittelstand als Distinktions- und Identifikationsbegriff der Bourgeoisie in niederösterreichischen Kleinstädten erweist sich als ein originelles Lebenszeichen der Bürgertumsforschung.

Soziale „Beziehungsnetze“ sind der Gegenstand eines zweiten Abschnitts. Behandelt werden Verwandtschafts- und Ehebeziehungen, die immer auch wirtschaftliche Beziehungen und Transaktionen mit sich brachten. Verbunden damit ist auch die Frage von Ehescheidungen, denen ein eigener Beitrag von Andrea Griesebner, Isabella Planer und Birgit Dober gewidmet ist. Innerhalb eines Haushalts, aber nicht zwischen verwandten Personen sind die oft konfliktförmigen Relationen zwischen Dienstbotinnen und deren Arbeitgeber:innen verortet, die Jessica Richter und Tim Rütten darlegen. Waltraud Schütz‘ Untersuchungen zu philanthropischem Engagement adeliger Frauen kann man als Beitrag zur Vorgeschichte der ersten Welle der Frauenbewegung lesen.7

Niederösterreich im 19. Jahrhundert kann nicht ohne Wien gedacht werden8, und so ist ein Abschnitt über „die Metropole und das flache Land“ unvermeidlich. Hier kommen einerseits wirtschaftshistorische Fragen zur Sprache, etwa wenn es um die Versorgung der Stadt Wien mit Nahrungsmitteln aus dem Umland geht, speziell in der Zeit vor der Einrichtung industrieller Transportmittel, dem Gegenstand von Jonas Albrechts Beitrag. Andererseits geht es auch um die Geschichte von Landschaften – etwa des Wienerwalds, der weit mehr als nur eine geografische Region darstellte – und deren Nutzung für Tourismus und Freizeit.

Ein wesentlicher Aspekt würde fehlen, ließe man „Repräsentation, Kulturbetrieb und Massenkultur“, so der Titel des vorletzten Abschnitts, außer Acht. Formen des Kunst- und Kulturkonsums wie Theater oder Stadtmuseen gewannen entsprechend der Entwicklung einer bürgerlichen Öffentlichkeit an Bedeutung. Auch populärere Genres wie die Volksmusik weckten das Interesse bürgerlicher und adeliger Sammler, und das bereits ab dem späten 18. Jahrhundert. Sogar das Medium Film und seine Darbietung durch Kinematographen, dies erst zum Ende des langen 19. Jahrhunderts hin, wird in einem Beitrag von Karin Moser aufgegriffen.

Der abschließende Abschnitt setzt sich aus Bildessays von Elisabeth Loinig und Johannes Ramharter zu „Architektur und bildende[r] Kunst“ zusammen. Hier überwiegt der illustrative gegenüber dem analytischen Charakter, und doch werden Zusammenhänge zu sozialen, politischen, administrativen und wirtschaftlichen Veränderungen der untersuchten Zeitperiode veranschaulicht. So werden hier nicht nur repräsentative, sondern auch industrielle und infrastrukturelle Architektur der Epoche vorgestellt. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse am Ende des Werks gibt es nicht. Vielleicht wäre das aber angesichts der zahlreichen Einleitungen in den Bänden ohnehin zu viel verlangt.

Vielleicht ist es nicht leicht, über Niederösterreich zu schreiben. Die Herausgeber:innen haben es sich jedenfalls nicht leicht gemacht. Die zahlreichen Beiträge wurden in Autor:innenworkshops diskutiert, mehreren redaktionellen Feedbackschleifen sowie einem externen Begutachtungsverfahren unterzogen (Bd. 1, S. 11f.). Das hier besprochene zweibändige Werk versucht unterschiedlichen Ansprüchen gerecht zu werden. Einerseits wollte man den Stand der Forschung und neueste regionalhistorische Erkenntnisse versammeln, andererseits sollte auch ein Publikum außerhalb des Wissenschaftsbetriebs angesprochen werden (Bd. 1, S. 11). Inwiefern dieser zweite Aspekt abgedeckt wurde, ist nicht Gegenstand der vorliegenden Rezension, aber vielleicht können die zahlreichen, sorgfältig ausgewählten Illustrationen diesem Ziel zuträglich sein. Die Bedeutung der Publikation für Historiker:innen ist aber gewiss nicht zu unterschätzen, und zwar nicht nur, wenn diese sich konkret für Niederösterreich interessieren. Spezialist:innen für die späte Habsburgermonarchie finden hier Anregungen ebenso wie Forscher:innen, die sich für Modernisierungsprozesse im langen 19. Jahrhundert interessieren. Fragt man nach der Geschichte sozialer Macht, so untersucht man das Kronland Niederösterreich nicht als Einzelfall, sondern als jene Ebene, die „zwischen lokalen Beziehungsgeflechten und dem Staat vermittelt und in beide Richtungen übersetzt“ (Bd. 1, S. 28). Es ist eine Einladung, Regionalgeschichte mittels Denkwerkzeugen der historischen Soziologie zu betreiben, die auch auf andere Forschungsobjekte und -kontexte Anwendung finden können. Dieser Einladung zu folgen, sollte umso leichter fallen, als das umfangreiche Werk auf der Website des niederösterreichischen Instituts für Landeskunde digital zugänglich ist.9

Anmerkungen:
1 Stella Musulin, Austria and the Austrians, New York 1972, S. 197.
2 Etwa Karl Gutkas, Geschichte des Landes Niederösterreich, 7. Aufl., Wien 1984 (1. Aufl 1965).
3 Stefan Eminger / Ernst Langthaler, Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Band 1: Politik, Wien 2008; Stefan Eminger / Ernst Langthaler / Peter Melichar, Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Band 2: Wirtschaft, Wien 2008; Stefan Eminger / Oliver Kühschelm / Ernst Langthaler, Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Band 3: Kultur, Wien 2008. Mit Stefan Eminger und Oliver Kühschelm sind zwei der Herausgeber auch an den hier besprochenen Bänden beteiligt.
4 Pieter Judson, The Habsburg Empire. A New History, Cambridge MA 2016, S. 334.
5 Michael Mann, Geschichte der Macht. Bd. 1: Von den Anfängen bis zur griechischen Antike, Frankfurt am Main 1990; Ders., Geschichte der Macht. Bd 2: Vom Römischen Reich bis zum Vorabend der Industrialisierung, Frankfurt am Main 1991; Ders., Geschichte der Macht. Bd. 3: Teil 1, Die Entstehung von Klassen und Nationalstaaten, Frankfurt am Main 1998; Ders., Geschichte der Macht. Bd. 3: Teil 2, Die Entstehung von Klassen und Nationalstaaten, Frankfurt am Main 2001.
6 Die Beschäftigung mit dem Staat und dessen Interaktion mit der Bevölkerung auf der Ebene lokaler Behörden wurde etwa vor nicht allzu langer Zeit als Forschungsdesiderat der Geschichte der späten Habsburgermonarchie bezeichnet, siehe Gary B. Cohen, The Austrian Bureaucracy at the Nexus of State and Society, in: Franz Adlgasser / Fredrik Lindström (Hrsg.), The Habsburg Civil Service and Beyond: Bureaucracy and Civil Servants from the Vormärz to the Inter-War Years, Wien 2019, S. 49–66.
7 Die von ihr beforschte „Gesellschaft adeliger Frauen zur Förderung des Guten und Nützlichen“ wurde andernorts als Prototyp früher Frauenvereine bezeichnet, siehe Rita Huber-Sperl (Hrsg.), Organisiert und engagiert. Vereinskultur bürgerlicher Frauen im 19. Jahrhundert in Westeuropa und den USA. Königstein/Taunus 2002, S. 59.
8 Wien wurde erst 1922 endgültig ein eigenes Bundesland und blieb bis 1997 Landeshauptstadt Niederösterreichs.
9 Seit November 2022 Open Access (CC-BY 4.0) verfügbar auf der Website des niederösterreichischen Instituts für Landeskunde: https://land-noe.at/noe/19jh01.html bzw. https://land-noe.at/noe/19jh02.html.

Editors Information
Published on
Classification
Temporal Classification
Regional Classification
Book Services
Additional Informations
Niederösterreich im 19. Jahrhundert
Language of publication
Country
Niederösterreich im 19. Jahrhundert
Language of publication
Country
Language of review